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Der Bologna-Prozess 1998 - 2010

Pisa und Bologna brechen am Anfang des 21. Jahrhunderts als reaktionäre Reformbewegungen von oben über das europäische Bildungswesen herein mit katastrophalen Folgen für die geistige Autonomie als einer der bedeutendsten Errungenschaften der Neuzeit und Aufklärung. Über den Tellerrand geblickt zeigt sich der Zusammenbruch der Universitätsfreiheit im Kontext einer allgemeinen gesellschaftlichen Umformung, die auf verschiedenen Ebenen beobachtet werden kann: Ob Bologna, PISA, NPM, EU-Zentralismus ebenso wie Nationalismus, Aufrüstung, Gesundheitsreform, Demokratie- und Sozialabbau, mediale Gleichschaltung und Manipulation, illegale Dauerkriege, die zunehmend aufdringlicher werdende Totaltechnisierung aller Lebensverhältnisse, sogenannte Qualitätssicherung, Überwachung, Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen, Vereinnahmung von Saatgutrechten durch Agra-Konzerne etc.. Eine sich unter der Tarnkappe neoliberaler Pseudofreiheit ausbreitende, letztlich aber reaktionäre Tendenz scheint unverkennbar. Etliche Widerstandsbewegungen haben sich bereits dagegen formiert, die als „Zivilgesellschaft“ eine gemeinsame Identität suchen. Auch die Studentenproteste 2009 - 2011 gegen die Bologna-Reform gehörten dazu.

 

Die Zivilgesellschaft tritt heute, wie man sagt, als „dritte Kraft“ neben Politik und Wirtschaft hervor. Sie kämpft für die Rettung, bzw. Neubildung humaner Zivilisationsformen auf Grundlage der allgemeinen Menschenrechte. Nachhaltigen Erfolg wird sie jedoch nur haben, wenn sie das aufklärerische Motiv der geistigen Unabhängigkeit als Kernstück jeder wirklich menschenfreundlichen Zivilisationsgestaltung begreift. Die Befreiung des Hochschulwesens von staatlich-ökonomischer Fremdsteuerung ist unabdingbar, wenn Universitäten wieder Ideenwerkstätten lebenswerter Gesellschaften werden sollen.

  

Zivilgesellschaftliche Organisationen fordern zu Recht staatliche Rahmenbedingungen zwecks Bändigung eines wild gewordenen Weltwirtschaftschaos. Es wäre aber fatal, im gleichen Atemzug die geistige Unabhängigkeit des Bildungswesens staatlich reglementiert sehen zu wollen. Staat und Wirtschaft sind gleichermassen in den Sog des Neoliberalismus geraten und können sich aus eigener Kraft nicht mehr daraus befreien. Nur der einzelne, initiative Mensch kann die Rettung bringen: der „Zivilist“, der sein Denken selbsttätig an der Sache orientiert, statt an korrumpierten Test-Vorgaben globaler OECD-Normen.

Keine Generation kann neue Gedanken mit dem Potential entwickeln, verfehlte Gesellschaftssysteme umzuformen, solange die Inhalte ihres Denkens von eben diesen Gesellschaftssystemen vorgegeben werden. Die Kraft der Umformung kann nur aus der unabhängigen Produktivität des kreativen Geistes stammen (Schiller nannte ihn „philosophischen Geist“), nicht aus den erstarrten Formen des Bestehenden mit seinem Banken- und Brotgelehrtentum. Die Befreiung des Bildungs- und Hochschulwesens sollte deshalb zu den vorrangigen Zielen der Zivilgesellschaft gehören. Universitäten sind nicht zuletzt Orte, wo Pläne und Konzepte neuer Zivilisationsformen geschmiedet und anfänglich umgesetzt werden können. Die Verwirklichung des Menschenrechts auf freie geistige Entfaltung im Bildungswesen ist eine notwendige Voraussetzung dafür.

Diverse Beiträge zum Thema Bologna-Reform:

"Ungeliebter Bachelor - Wann kommt  die Bachelorreform":

https://www.youtube.com/watch?v=Dt3CaC6zDDA

"Der Wert des humanistischen Bildungsideals"

https://www.youtube.com/watch?v=e9z1Z1jd_L8

 

"Der Bologna-Prozess wurde zum Alptraum für Studierende":

https://www.youtube.com/watch?v=vYYDEaZFN8A

                                                                                                                                              

Literatur:

Der freiheitliche Universitätsbegriff Wilhelm von Humboldts - Die Abschaffung der alten Studierfreiheit durch den Bologna-Prozess

- von Ingo Hoppe 

2015 erschienen im FIU-Verlag Achberg 

Bildung statt Bologna 

- von Dieter Lenzen

2014 erschienen im Verlag Ullstein

Philosophie einer humanen Bildung

- von Julian Nida-Rümelin

2013 erschienen im Verlag Körber-Stiftung

Studieren ist mehr als Lernen - Eine Streitschrift zur Bologna-Reform

- von Hermann Giesecke

2020 Göttingen

Bildung durch Wissenschaft: Vom Nutzen forschenden Lernens

- von Jürgen Schlaeger und Heinz Elmar Tenorth

2020 erschienen im Berliner Wissenschafts-Verlag

Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Humboldtschen Bildungstheorie und der Bologna Reform von 1999

- von Daniela Sehlbach

2014 Norderstedt

Zeitdokumente  zu den Studentenprotesten 2009:

https://www.youtube.com/watch?v=rZHYL7qEdDI

https://www.youtube.com/watch?v=AdrRwxtjv78

Bildungspolitik: Humboldt reloaded - Politik - FAZ

Studentenproteste in Österreich 2009 - Stellungnahmen Teil 1 - YouTube

Studentenproteste in Österreich 2009 - Stellungnahmen Teil 2 - YouTube

Studentenproteste in Österreich 2009 - Stellungnahmen Teil 3 - YouTube

       Aus einer Denkschrift Wilhelm von Humboldts:

"Der Begriff der höheren wissenschaftlichen Anstalten, als des Gipfels, in dem alles, was unmittelbar für die moralische Cultur der Nation geschieht, zusammenkommt, beruht darauf, dass dieselben bestimmt sind, die Wissenschaft im tiefsten und weitesten Sinne des Wortes zu bearbeiten, und als einen nicht absichtlich, aber von selbst zweckmässig vorbereiteten Stoff der geistigen und sittlichen Bildung zu seiner Benutzung hinzugeben.

   Ihr Wesen besteht daher darin, innerlich die objective Wissenschaft mit der subjectiven Bildung, äusserlich den vollendeten Schulunterricht mit dem beginnenden Studium unter eigener Leitung zu verknüpfen, oder vielmehr den Uebergang von dem einem zum anderen zu bewirken. Allein der Hauptgesichtspunkt bleibt die Wissenschaft. Denn sowie diese rein dasteht, wird sie von selbst und im Ganzen, wenn auch einzelne Abschweifungen vorkommen, richtig ergriffen."

  

"Da diese Anstalten ihren Zweck indess nur erreichen können, wenn jede, soviel als immer möglich, der reinen Idee der Wissenschaft gegenübersteht, so sind Einsamkeit und Freiheit die in ihrem Kreise vorwaltenden Principien. Da aber auch das geistige Wirken in der Menschheit nur als Zusammenwirken gedeiht, und zwar nicht bloss, damit Einer ersetze, was dem Anderen mangelt, sondern damit die gelingende Thätigkeit des Einen den Anderen begeistere und Allen die allgemeine, ursprüngliche, in den Einzelnen nur einzeln oder abgeleitet hervorstrahlende Kraft sichtbar werde, so muss die innere Organisation dieser Anstalten ein ununterbrochenes, sich immer selbst wieder belebendes, aber ungezwungenes und absichtsloses Zusammenwirken hervorbringen und unterhalten."

  

"Es ist ferner eine Eigenthümlichkeit der höheren wissenschaftlichen Anstalten, dass sie die Wissenschaft immer als ein noch nicht ganz aufgelöstes Problem behandeln und daher immer im Forschen bleiben, da die Schule es nur mit fertigen und abgemachten Kenntnissen zu thun hat und lernt. Das Verhältniss zwischen Lehrer und Schüler wird daher durchaus ein anderes als vorher. Der erstere ist nicht für die letzteren, Beide sind für die Wissenschaft da; sein Geschäft hängt mit an ihrer Gegenwart und würde, ohne sie, nicht gleich glücklich von statten gehen; er würde, wenn sie sich nicht von selbst um ihn versammelten, sie aufsuchen, um seinem Ziele näher zu kommen durch die Verbindung der geübten, aber eben darum auch leichter einseitigen und schon weniger lebhaften Kraft mit der schwächeren und noch parteiloser nach allen Richtungen muthig hinstrebenden."

 

"Was man daher höhere wissenschaftliche Anstalten nennt, ist, von aller Form im Staate losgemacht, nichts Anderes als das geistige Leben der Menschen, die äussere Musse oder inneres Streben zur Wissenschaft und Forschung hinführt. Auch so würde Einer für sich grübeln und sammeln, ein anderer sich mit Männern gleichen Alters verbinden, ein Dritter einen Kreis von Jüngern um sich versammeln."

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